Kurz vor dem hundertsten Jahrestag von Benito Mussolinis «Marsch auf Rom» stehen postfaschistische Kräfte vor dem Wahlsieg in Italien. Die Verhältnisse haben sich geändert, aber die Politik ist instabil geblieben.
Andres Wysling
Mit dem «Marsch auf Rom» übernahm Ende Oktober 1922 der Diktator Benito Mussolini die Macht in Italien. Es folgten zwanzig Jahre faschistische Herrschaft, sie ging unter in Krieg und Bürgerkrieg. Hundert Jahre später zeichnet sich in Italien für die Wahlen Ende September ein Sieg rechtsradikaler Kräfte ab. Diese bezeichnen sich selbst als «konservativ», lassen dabei aber postfaschistische Tendenzen deutlich erkennen. Wie gefährlich sind Giorgia Meloni und Matteo Salvini? Droht gar ein neuer Absturz in den Faschismus?
Der Revolutionsführer fährt im Schlafwagen
Der «Marsch auf Rom» war eine Mischung aus Staatsstreich und regulärem Regierungswechsel. Am 28.Oktober 1922 machten sich faschistische Truppen auf in Richtung Hauptstadt, etwa 20000 Mann, es gibt auch viel höhere Schätzungen. Sie waren schlecht bewaffnet, hatten zu wenig zu essen und wurden vom Regen durchnässt. Die Ordnungskräfte hätten sie stoppen und zurückweisen können, doch erhielten sie keinen Befehl dazu. Es wurde verhandelt. Schliesslich erteilte König Vittorio Emanuele III. dem Faschisten-Chef Mussolini den Regierungsauftrag.
Mussolini hatte dem «Marsch» von Mailand aus zugeschaut, aus sicherer Distanz. Nun fuhr er im Schlafwagen nach Rom, am 30.Oktober übernahm er die Regierungsführung. Am folgenden Tag zogen seine Schwarzhemden im Triumph in die Hauptstadt ein. Ende November liess sich Mussolini mit umfassenden Vollmachten (pieni poteri) ausstatten. Das Parlament schaltete sich selbst aus, dabei hatten die Faschisten nur 35 von 535 Sitzen.
Der Lega-Chef Matteo Salvini verlangt «pieni poteri», Aussagen vom August 2019.
La7 / Youtube
Verstellen und Verwirren
Matteo Salvini, Anführer der Partei Lega, wollte im Sommer 2019 Italiens Regierung übernehmen. Zuvor schon hatte er von einem «Spaziergang nach Rom» schwadroniert, jetzt verlangte er «pieni poteri». Dazu zeigte er sich in der Badehose am Strand, ein kräftiger Mann mit breiten Schultern, einer fürs Selfie. Einst hatte der «Duce» mit nacktem Oberkörper bei der Getreideernte geholfen – einer, der anpackte. Gegenüber dem Original wird der Imitator zur Karikatur.
Giorgia Meloni muss nicht mit Mussolini-Zitaten hausieren, sie erfindet ihre Parolen selbst. Die wichtigste: «Io sono Giorgia.» Sehr vieles dreht sich bei dieser bald schreienden, bald schnurrenden Eisprinzessin um ihre eigene Achse. Ihre dicke Autobiografie kündet von übersteigertem Selbstbewusstsein und Selbstverliebtheit, auch von Selbstreflexion. Sie ist eine Meisterin der Verstellung und Verwirrung. Als Verteidigerin von «Identität» und «Freiheit» stellt sie sich dar. Aber die Freiheitsrechte achtet sie gering. Eigentlich will sie einen Polizeistaat «illiberalen» Zuschnitts. Ein bisschen Foltern gehört für sie dazu.
«Io sono Giorgia!»: Meloni spricht im Oktober 2019 über «Identität».
Unlust in einem wohlhabenden Land
Die Verhältnisse in Italien waren vor hundert Jahren grundlegend anders als heute. Das Land war erschöpft vom Ersten Weltkrieg, grosse Teile der Bevölkerung lebten in drückender Armut. Es kam zu Aufständen, Streiks, Fabrik- und Landbesetzungen. Industrielle und Grossgrundbesitzer schickten Schlägertrupps los, um ihr Eigentum zu schützen und eine Revolution im Sowjet-Stil zu verhindern. Die «squadristi» – viele von ihnen waren arbeitslose Kriegsheimkehrer – wurden zum Kern der faschistischen Bewegung. Ständig wechselnde liberale Regierungen liessen sie gewähren.
Eine Massenarmut wie damals gibt es heute nicht, Italien ist ein wohlhabendes Land. Es gibt keine Aufstände Hungernder, keine revolutionäre Stimmung, keine bewaffneten Milizen, (fast) keine politische Gewalt. Allerdings gibt es eine diffuse Unzufriedenheit, manche Angehörige der Unter- und Mittelschicht haben Existenzängste. Zuerst hat die Corona-Pandemie bei vielen empfindliche Einkommenseinbussen verursacht, auch allerlei Ängste und Verschwörungstheorien hervorgebracht. Jetzt droht mit der Inflation ein neuer Verlust an Kaufkraft.
Die sozialen Zerwürfnisse und die politische Konfrontation dürften zunehmen in Italien. Das Land sollte aber damit umgehen können, immerhin ist es seit gut siebzig Jahren eine funktionierende Demokratie mit einer lebhaften Diskussionskultur – und dies gegenwärtig trotz Mafia, Berlusconi-Fernsehen und Fake-News-Epidemie oder früher dem Links- und Rechtsterrorismus.
Italiens Institutionen sind brüchig
Allerdings befinden sich Schlüsselinstanzen der Politik so wie vor hundert Jahren in einer Dauerkrise. Das Parlament erfüllt seine Funktion nicht, wichtige Gesetze kommen im allgemeinen Hickhack nicht zustande oder bleiben Stückwerk. Die Parteien sind unfähig, sich auf Legislaturziele festzulegen. Die Regierung wurde gerade wieder aus dem Amt befördert. Die Justiz bringt keine speditive Rechtsprechung zustande, ihre Aufsichtsorgane demontieren sich selbst. Solche Missstände spielen Kräften in die Hände, die versprechen, «Ordnung» zu schaffen, wie auch immer.
Mussolini mit Zylinder: übernimmt die Regierung Italiens, 30.Oktober 1922.
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